Einführung zur Ausstellung Anke Landschreiber - Myriam Thyes, Abgeordnetenhaus des Landtags am 7.1.0.2003 von Justus Jonas

Auszüge der Rede zu Anke Landschreiber

Sehr geehrte Damen und Herren,
unter dem Titel „Gothik extended + Terminator transformed“ betreten Sie ... einen Bereich zwischen Realität und Fiktion, Vertrautem und Obskuren, Lichtem und Düsterem. ... Anke Landschreiber, von Hause aus Bildhauerin, hat die hier gezeigten Holzwandarbeiten unter das Motto einer „erweiterten“ Gotik gestellt, ...

Anke Landschreiber interessiert sich für die Realität von Symbolen, Ornamenten und Superzeichen, deren Klischees und Oberflächlichkeiten sie befragt und teils auch entlarvt. Für die Ausstellung hat sie zwei in ihrer Form gleiche reliefartige Wandobjekte gebaut, deren scheinbar ineinander verschlungenen Elemente entfernt an mittelalterliche Flechtband-Ornamentik erinnern. Die kompliziert gebaute Holzkonstruktion, die eine aus Teilen zusammengesetzte Ganzheit suggeriert und im Innern mehrfach zur Wand hin geöffnet ist, ist vorderseitig jeweils mit einer Fotofolie beklebt, die eine kristalline Struktur zeigt. Es handelt sich dabei um vervielfältigte Ausschnittvergrößerungen von Diamantsplittern, welche der Werbebroschüre eines Juweliers entnommen sind. Die Oberflächenfolie verleiht den Objekten etwas ebenso illusionistisch Attrappenhaftes wie unheimlich Disparates. Steht der gebaute Kern für das Feste und Unveränderliche, so sein funkelnde Äußeres für Kontingenz, Austauschbarkeit und Transitorik.

Welche Symbiose entsteht aus der Verbindung ornamentaler Holzkonstruktion und den verführerischen Lichtreflexen ihrer Außenhaut? Orientiert man sich an der Bezeichnung „Gotik“, so mag man an sich auflösende Architekturformen der Kathedralen von Reims oder Amiens oder die Glasfenster von Chartres und Sainte-Chapelle denken. Der gleiche Stilbegriff bezeichnet aber auch die als „Gothic“ seit der Frühromantik bekannt gewordene Gattung des englischen Schauerromans, in dessen Nachfolge alles Dunkle, Dämonische und Numinose in den unterschiedlichsten Ausprägungen bis heute fortlebt. Diese Variante des Begriffs gothic verknüpft sich mit einem nahezu unerschöpflichen Fundus von subkultureller Esoterik und Emblematik, die in ihren teils bizarren Ausprägungen irgendwo zwischen Totenkopf- und Tattookult angesiedelt ist. Überhöht also die Diamantstruktur das Gebaute oder gehen Oberfläche und Gebilde eher eine groteske Verknüpfung ein? Anke Landschreiber bezieht mit ihrem erweiterten Gotik-Verständnis auch die letzt genannten Dimensionen des Gruseligen, Milieubehafteten, Absonderlichen und Trivialen mit ein - wenn auch nicht in primärer Absicht. Geht es ihr einerseits darum, das Ornament aus seiner schön bis belanglos empfundenen, d.h. stets verharmlosenden Einschätzung zu entbinden, so umgekehrt auch darum, bereits vorhandene kulturelle Muster aufzugreifen, zu verwandeln und umzudeuten. Dass sie diese Arbeit gerade als Bildhauerin mit hohem technischem und handwerklichem Aufwand betreibt, macht ihre künstlerischen Ergebnisse, wie Sie sehen, höchst ungewöhnlich und spannend.

Der Charakter des Hybriden, Unheimlichen und Zwitterhaften macht sich in Anke Landschreibers Arbeit übrigens nicht zuletzt auch an der achsensymmetrischen Spiegelung fest und deckt sich erstaunlich eng mit dem, was Sigmund Freud in seinem 1919 veröffentlichten Aufsatz über „Das Unheimliche“ beschrieben hat. Darin definiert Freud das „Unheimliche“ ausdrücklich als eine ambivalente Größe, in der „Vertrautes, Behagliches“ mit seinem Gegenteil, dem „Unbehaglichen“ und „Grauenerregenden“ zusammenkommen, vor allem in Gestalt von mysteriösen Doppelungen, Zwillingserscheinungen oder Ich-Teilungen, die uns in Anke Landschreibers „Twins“ wie eben beschrieben vor Augen treten.

Damit schließt sich der Kreis und möchte ich meine Ausführungen schließen, jedoch nicht ohne sie noch auf die kurzen Videoanimationen der beiden Künstlerinnen aufmerksam zu machen, zu denen ich nur erwähnen will, dass sie sich – frech, abwechslungsreich, witzig, selbstironisch und unterhaltsam– mit Klischees und Rollenverhalten auseinandersetzen. Und damit wünsche ich Ihnen nun noch viel Anregendes und interessante Gespräche in der Ausstellung sowie im weiteren Verlauf des Abends.

Justus Jonas


 

Eröffnungsrede zur Ausstellung

„Anke Landschreiber – sweet, soft and bold. Video-Kunst, Skulptur“
21. 10. – 10. 12. 2005, Galerie Engert, Eschweiler
Nackte Babies verleiten so manchen von uns zu einem Verhalten, das für erwachsene Menschen eher ungewohnt und unüblich ist: Spontane Rufe des Entzückens, heftiges Grimassenschneiden im Wechsel mit unverständlichem Gebrabbel.

Keiner von Ihnen hat angesichts der hier gezeigten fünf Säuglinge nur annähernd jene landläufigen Reaktionen gezeigt. Ich denke, dies liegt nicht allein daran, daß es sich hier keineswegs um lebendige Babys handelt, - denn die beschriebene Begeisterung konnte ich durchaus auch schon bei Babys auf Leinwand gemalt oder aus Marmor geformt beobachten – nein, mir scheint, warum Sie sich, meine Damen und Herren, vor den „Baby Argonauts“ von Anke Landschreiber so gezügelt zeigen, hat andere Gründe:
Sie haben ganz unmittelbar wahrgenommen, daß es sich hier nicht im eigentlichen Sinne um niedliche, schutzlose Knuddelbabys geht. Die beschriebenen Rudimente mütterlicher oder väterlicher Instinkte funktionieren hier nicht, weil wir weder an zarte Babyhaut erinnert werden, noch meinen, mit dem Finger in das rosa Fleisch pieksen oder die Speckfalten kneifen zu können. Es ist unschwer zu erkennen, daß unser Grimassen-Schneiden vergeblich wäre, je unbeantwortet bliebe, fehlen den Babys doch die individuellen Gesichter. Auch strahlen diese Körper mit ihrer aluminiumgrauen Haut keine süße Wärme und Schutzbedürftigkeit, sondern die Kühle der anorganischen Metallfolie aus.
Es scheint sogar so, als schwebten die Babies geradezu körperlos im Nichts, als blickten wir durch ihre Körper durch wie auf Schattenrisse.
Die von Anke Landschreiber gewählte künstlerische Gestaltung verleiht uns Röntgenaugen, mit denen wir die Körper wie in einer Kernspintographie Schicht für Schicht durchleuchten und in das Innerste eindringen können.
Der Titel der heutigen Ausstellung lautet „sweet, soft and bold“.
„Bold“ ist zum einen ein Spezialausdruck aus der Typographie, wenn die Typo fett gedruckt wird, zum anderen bedeutet „bold“ dreist, kühn oder keck. Auch spricht man von einer „bold outline“, wenn man einen markanten Umriss meint. Oder man verwendet die Redewendung “I make bold“, wenn man sagt „ich erkühne mich“. Der Titel „sweet, soft and bold“ legt vor diesem Hintergrund eine ironische Lesart und zugleich eine selbstbewußte Setzung der Künstlerin nahe. Bezogen auf die Babes macht der Titel auf einen Spannungsbogen zwischen süßer, weicher Nacktheit und kühner Anorganik, von menschlicher Figur und geometrischem Muster aufmerksam.
Das Besondere aber dieser scheinbar im Weltall wabernden Skulpturen, die weder erreichbar noch in ihrer materiellen Substanz greifbaren zu sein scheinen, ist, daß das, was sie darstellen, die Babys, außerhalb ihres alltäglichen Kontextes wahrgenommen werden und damit an übergreifender Bedeutung gewinnen, ja gleichsam zu einem gedanklichen Modell werden.
Anke Landschreiber hat mir geschildert, mit welcher traumwandlerischen Sicherheit sie diese Figuren in einem Zuge, ohne ein einziges Mal abzusetzen, aus dem Aluminium herausgeschält hat. Ihre Säge setzt auf dem Dibond-Aluminium an dem Punkt an, wo die Stirn des Babys entstehen soll, kreist in immer größeren Schwüngen um die Anfangsachse und umwandert die Kopfkugel so wie man in einer Endlosspirale einen Apfel schält, zieht in einer geschmeidigen Linie weiter zu den Ärmchen, schließlich zu den Beinchen, um dann in einem immer engeren Sog einer sich nach innen eindrehenden Spirale am Bauchnabel zu enden.

Nicht immer sind Künstler in der Lage, mit derart großer traumwandlerischer Leichtigkeit, wie es Anke Landschreiber für ihre „Baby Argonauts“ geschildert hat, ans Ziel zu gelangen. Wenn es aber einmal gelingt, dann ist es ein großer Wurf und teilt sich - wie hier bei den Babys - mit aller Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit dem Betrachter mit. Und wie es sich für gute Kunst gehört, ist das Ergebnis unverwechselbar und eigenständig, und dennoch unverkennbar in einer Kunsttradition stehend, aber in seinem visionären Kern „bold“, d.h. kühn und zukunftsweisend.
So interessant der Herstellungsprozess ist, so soll er nach Vorstellung der Künstlerin während der Betrachtung des Kunstwerkes zurücktreten, ebenso wie sich die Materialität des Kunstwerkes nicht vordrängt darf, sondern lediglich der notwendige Ausdruck einer geistigen Entsprechung in materieller Form und adäquater Größe ist.
In unserem gemeinsamen Gespräch wurde deutlich, wie wichtig Anke Landschreiber nicht nur die Übereinstimmung von Inhalt und Form, Form und Materialität, sondern wie grundlegend vor allem dabei die Balance zwischen künstlerischer Freiheit und geschichtlicher Gebundenheit von Person und Werk ist. Ich schätze es sehr, daß Anke Landschreiber zu jenen Künstlern zählt, die ihre Kunst immer wieder im Kontext der Geschichte überdenken und aus dieser Tradition bewußt schöpfen. Hier sei nur auf ihre großformatigen Holzschnitte verwiesen, die auf eine jahrhundertealte Tradition japanischer Lackholzschnitte zurückblickt.
Fragt man Anke Landschreiber nach ihrem künstlerischen Credo, so zitiert sie aus Roland Barthes „Fragmente einer Sprache der Liebe“: „Ein Kunstwerk ist präzise, flexibel und leer“ und sie fügt hinzu, präzise müsse es in der Ausführung sein, gegründet auf einer klaren künstlerischen Entscheidung und einem klugen Konzept. Flexibel, so füge ich hinzu, muss es sicher in seiner vielschichtigen Bedeutung und Rezipierbarkeit sein. Erst daraus resultiert jene Leere, oder wie Umberto Eco sagt jene „Offenheit“, die sich jeglicher ideologischen Festlegungen und Modetrends widersetzt.
Das nach Umberto Eco „offene Kunstwerk“ zeigt Offenheit im Sinne „einer fundamentalen Ambiguität der künstlerischen Botschaft.“ Diese Offenheit stellt eine Konstante jedes Werkes aus jeder Zeit dar, ohne jedoch seine Zeitgebundenheit zu verneinen.
Anke Landschreibers Vorstellung von der Leere eines Kunstwerks ist nicht nur Barthes und Eco verpflichtet, sondern knüpft an Alois Riegels wegweisenden Begriff vom „Kunstwollen“ an, den der Wiener Kunsthistoriker vor mehr als hundert Jahren entwickelt hatte. Weitergeführt von Erwin Panofsky ist bei diesem Begriff die Rede von einem letzten und endgültigen Sinn, den man in allen künstlerischen Phänomenen antreffen kann, unabhängig von ihrer Zeitgebundenheit oder von den subjektiven, d.h. psychosozialen Befindlichkeiten des Künstlers selbst.
Im Ringen um den letzten und endgültigen Sinn aber ist ein Adlerblick von oben über die Dinge erforderlich. Das Streben nach einem offenen, überzeitlichen Kunstwerk verlangt von der Künstlerin eine hohe Abstraktionsleistung. Für Anke Landschreiber bedeutet dies, einen radikalen Reduktionsprozeß in Gang zu setzen, um auf skulpturale Weise die geistigen Fundamente und visuellen Grundlagen, sozusagen Archetypen in verdichteter Form, eben Destillate unseres bildlichen Denkens zum Ausdruck zu bringen.
In letzter Konsequenz geht es der Künstlerin dabei, wie sie sagt, um die Erschaffung von Ikonen, von Kultbildern, nicht im religiösen Sinne, sondern im Sinne eines allgemeingültigen Bildes.
An Hand des künstlerischen Verfahrens möchte ich diese abstrakten Gedanken anschaulich machen:
Der Ausgangspunkt für Anke Landschreibers künstlerische Arbeit ist zunächst ganz banal. Triviale Gegenstände, herkömmliche Rituale, wie z. B. das Stopfen eines Hühnchens, alltägliche Erinnerungen, die im Kopf hängen bleiben, entzünden den Werkprozeß. Im nächsten Schritt entkleidet die Künstlerin diese Gegenstände oder Bilder ihrer ursprünglichen Funktion und trägt die verkleisterten Schichten des allzu Bekannten so lange ab, bis sich eine neue Form und damit ein neuer Denk- und Gestaltungsraum herausschält. Das künstlerische Verfahren basiert also ganz wesentlich auf einem Reduktions- und Verfremdungsprozeß, was nicht heißt, daß ihre Werke nicht poetisch und spielerisch, humorvoll und gefühlsbetont sind.
Ein schönes Beispiel ist die hier gezeigte „Rosette mit Maiglöckchen“.
Ich erwähnte es schon, eines meiner Lieblingsobjekte von Anke Landschreiber, entstand 1991 während ihres Stipendiums an der Cité Internationale des Arts in Paris. Es stellt die Summe ihrer Beschäftigung mit der vergänglichen Schönheit der französischen Hochgotik dar und ihrer Erinnerungen an den Frühling in einem vom Maiglöckchenduft verzauberten Paris. Dabei greift sie jene filigrane Form der berühmten Fensterrosette an der Südseite von Notre Dame in Paris auf und diese bis auf ihren trivialen Kern bloßlegend wird sie auf ihre Grundform, den Kreis, reduziert. So vollzieht sich die Transformation vom Gegenständlichen in etwas Typenhaftes, sozusagen in eine prototypische Ordnung.
Auch im Falle der Babys steht vor der technischen Umsetzung zunächst ein Reduktionsprozeß: Durch Anschauung individueller Babys gewinnt die Künstlerin die Grundform einer babytypischen Gestalt, den Prototyp eines Babys mit seinen charakteristischen Umrissen. Notwendig dafür ist, daß diese Babys entindividualisiert und geschlechtsneutralisiert sind.
Ganz entscheidend aber ist das Verhältnis von Größe und Form, Farbe und Form. Wichtig ist, daß die Größe in ein Spannungsverhältnis zum Gegenstand tritt, aber dieses nicht überspannt wird, denn das Maß gibt die menschliche Proportion an. Wenn Sie, meine Damen und Herren, ihre Arme ausbreiten, umspannen sie in etwa den Durchmesser der „Rosette mit Maiglöckchen“.
Dagegen überschreiten die Babys gemäß ihrer irrealen Bezüge ihr natürliches Maß, bleiben aber insgesamt noch im menschlichen Rahmen.
Die bevorzugten Farben von Anke Landschreiber, ein helles Blau oder ein helles Rosa, schaffen Transparenz und konterkarieren all das, was eine Skulptur gemeinhin ausmacht. Das Hellblau hinter den Maiglöckchen z. B. löst tendenziell die Materialität auf, schafft Raum und verbindet die Rosette wieder mit ihrer eigentlichen Funktion eines Fensters mit Blick in den Himmel, ein freilich transzendierendes Moment.
Nach dem Prozess der Abstraktion und Verfremdung erfährt die so reduzierte Grundform eine neue materielle und farbliche Ausgestaltung. Durch Hinzufügen von neuen Objekten erfolgt eine Art Neudefinition der Grundform, z. B. bei der Rosette kommt ein Strauß Maiglöckchen hinzu, der nun wiederum verfremdet als geometrisch-filigranes Muster die Speichen des Rades bilden. Diese Denaturierung stellt quasi einen umgekehrten Prozess dar, indem das versteinerte architektonische Muster in eine scheinbar pflanzliche und tierische Formen zurückgeführt wird. Der schon während der Gotik erfolgte Abstraktionsprozess vegetabiler Formen in eine architektonische Form wird so von Anke Landschreiber in einem doppelten, paradoxen Verfahren neu nachvollzogen.
Sie haben sicher schon bemerkt, daß eine Kompanie Maikäfer in einem Endlosrapport am Scheibenrand entlang kriechen. Diese, ich möchte fast sagen kafkaeske Wandlung konkreter Gegenstände in eine neue Gestalt durch Herauslösen aus ihrer üblichen Funktionalität schafft einen neuen, verfremdeten und deshalb spannungsreichen Kontext.
Die Rosette im Spannungsfeld von Abstraktion und konkreter Gegenständlichkeit stellt ein Destillat von Erinnerungen dar, ohne daß die Subjektivität der Künstlerin dabei überhand nimmt. Als Surrogat von erlebten Bildern bleibt in der Rosette dennoch das künstlerische Credo, die Allgemeingültigkeit des Ikons, die Offenheit des Kunstwerks vorrangig.
Hier erweist sich Anke Landschreiber ganz als Meisterschülerin von Fritz Schwegler. Wenn dieser begnadete Lehrer der Kunstakademie Düsseldorf eines vermittelt hat, so die Ermutigung zu einem kreativen Spagat, die künstlerische Arbeit bis an die Grenze der Offenheit voranzutreiben, ohne die Verbindung zur Dinglichkeit zu verlieren.
Dieser Spagat zwischen Formverlust und Formgewinn wird besonders sinnfällig an den „Baby Argonauts“: Das Zersägen einer geschlossenen Fläche ist vordergründig ein zerstörerischer Akt, aber bedeutet zugleich die Findung einer neuen Form und die Erweiterung der Fläche in ein dreidimensionales Objekt. Das Zerlegen in Aluminiumbänder ähnelt aber der ursprünglichsten aller künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten, dem Zeichnen von Linien auf dem Papier.
Einige von Ihnen werden sich vielleicht an den berühmten Kupferstich von Claude Mellan, einem französischen Kupferstecher des frühen 17. Jhs. erinnert fühlen, der in einer bis heute faszinierenden Weise das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch der Veronika in einer ununterbrochenen Spirale, ausgehend von der Nasenspitze des Christus, auf einer Kupferplatte gestochen hat.
Es sind die Grundformen, die in den Werken von Anke Landschreiber die Ordnung vorgeben: immer wieder der Kreis, aber auch Symmetrien spielen eine große Rolle, darunter immer wieder das Zwillingspaar. Die Objekte stellen meist geschlossene Körper und in sich geschlossene Systeme dar wie die nach außen abgeschlossene Form der Babys oder der Rosette, oder schauen Sie sich im Video „Golden Toys“ das in sich versunkene Paar der Eiskunstläufer an.
Spätestens beim Betrachten dieses Videos, das mich nicht ohne Grund melancholisch gestimmt hat, wird eine weitere Dimension im Werk der Künstlerin anschaulich, es ist die Zeit, ersichtlich in der Bewegung. Entsprechend des Verlaufs der Linie von der Baby Stirn bis zum Nabel, vollziehen wir auch im Blick auf die Pirouetten der Eiskunstprinzessin im Video die Koordinaten von Bewegung und Zeit nach. In „Golden Toys“ stellt die Künstlerin die rhetorische Frage nach dem Fortschritt oder Stillstand der menschlichen Entwicklung. Das Menschenaffenpaar, das wiederum als die „Grundform“ bzw. der Prototyp des menschlichen Paares schlechthin verstanden werden kann, bildet die Folie für die artifiziellen Verrenkungen der Eiskunstläufer. Deren Vertikalbewegungen täuschen nicht darüber hinweg, daß sie kaum von der Stelle kommen.
Wie gesagt, die Themen und Gegenstände bei Anke Landschreiber bleiben bewußt trivial, und dennoch veranlasst uns das scheinbar Triviale zum Staunen, weil im gestalterischen Prozess das Unbekannte, Ungreifbare, Geheimnisvolle hinzugewonnen wird. Archaische Bilder vom Neugeborenen oder vom Menschenpaar werden zum Zeichen eines längst verlorenen Sinns. Die Entleerung der Dinge aber wird so weit getrieben, daß in der neu entstandenen Künstlichkeit ein neues Ikon entstehen kann. Es bleibt uns überlassen, die melancholische Leere des Werkes auszuhalten und zu füllen.

Bettina Baumgärtel


Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/Main 1984.
Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, (1962, 1967), Frankfurt/Main 1977, hier S. 11f.
Alois Riegel: Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1901 und Gesammelte Aufsätze, hg. v. K. Swoboda, Wien 1929.
Erwin Panofsky: Iconography and Iconology, in: The History of Art as a Humanist Discipline, New York 1957.


 

 

Eröffnungsrede zur Ausstellung „Gilgamesh und Nero“
von Anke Landschreiber und Karl-Heinz Jeiter bei BKK Essanelle
16. September – 25. Oktober 2005
BKK Essanelle, Düsseldorf und Galerie Art Engert, Eschweiler

Bettina Baumgärtel zu Anke Landschreiber
Auszüge

... „Ich sende Euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“ (Matt. 10,16)

Will man dem künstlerischen Werk von Anke Landschreiber gerecht werden, darf man es nicht nur einer einzigen künstlerischen Sparte, keinesfalls allein der Bildhauerei zurechnen. Man kommt ihrem breitgefaßten Selbstverständnis als Künstlerin und ihrem vielfältigen Oeuvre nur dann näher, wenn man sich den großen Fundus ihrer Ideen vergegenwärtigt, aus dem sie tragfähige Konzepte entwickelt, wenn man wahrnimmt, mit welcher handwerklichen Fertigkeit und mit welchem technischen Know-How sie ihre multimedialen Objekte aus Holz und allen erdenklichen Hightech-Materialien bildet. Dabei hat sie vor kunstfremden Materialien keinerlei Scheu, läßt Inkjet Folien bzw. computergenerierte Folien, Silikon, Schaumstoff-Flocken oder Kunstschnee ebenso wie Fluorfarben oder Nitrolacke zum Einsatz kommen. Aber auch traditionelle Materialien und Techniken, wie das Roßhaar, auf das sie einen Fries von Wandobjekten bettet, oder die Technik der Intarsienschnitzerei, die bei ihren Holzobjekten Anwendung findet, kommen bei ihr sinnstiftend zum Einsatz.
Es ist schon wirklich erstaunlich, wenn man sich die subtilen Details der bemalten oder bezeichneten Oberflächen, der gesägten oder geschnitzten Partien, beispielsweise die weichen, abgerundeten Kanten der Holzobjekte oder die freihandgesägten Formen vor Augen führt. Wenn man sieht, mit welcher Virtuosität sie unterschiedliche Kunsthaltungen zum Ausdruck bringt, ihre Objekte ebenso meisterlich lackiert wie mit zeichnerischen Schraffuren überzieht, so ahnt man, daß es ihr bis in die kleinste Kleinigkeit darauf ankommt, damit sich der Gesamtentwurf auch bis ins Detail überzeugend mitteilt.
Und fast möchte man annehmen, sie sei nicht allein Meisterschülerin von Fritz Schwegler an der Düsseldorfer Akademie gewesen, sondern wäre auch mit Sigmar Polke oder Gerhard Richter in einen malerischen Wettstreit getreten.
Photographien oder auch Computercollagen, belichtet auf Flairtex, einem Kunststoff-Textil, gehören, wie in der hier gezeigten Serie „so lucky“, ebenfalls zu ihrem Handwerkszeug.
Mindestens so häufig greift sie zur Videokamera, seit 1999 auch als eine der Initiatorinnen der Künstlergruppe „Strictly Public“, die Videofilme und Multimediaprojekte in öffentliche Räume wie U-Bahnhöfe bringt.
Unverkennbar also die künstlerische Vielfalt im Werk der bei Tony Cragg und Fritz Schwegler ausgebildeten Künstlerin, die mir im übrigen erstmals 1994 als Teilnehmerin der Gruppenausstellung „Treibhaus 6“ aufgefallen war. Diese Ausstellungsreihe, die im Kunstmuseum Düsseldorf von meinem Kollegen Stephan von Wiese kuratiert wurde, brachte die Früchte ihrer Reisen nach Asien und ihres Stipendiums in der Cité Internationale des Arts in Paris zum Vorschein.
Seit 2005 nun ist Anke Landschreiber als Lehrbeauftragte an der Kunstakademie Düsseldorf tätig. So kann sie die dort gewonnenen Kenntnisse an ihre ehemalige Ausbildungsstätte zurückfließen lassen.
Viele ihrer Werke, von den frühen „Lampions“ des Jahres 1990 bis zu den jüngst entstandenen, bemalten Holzobjekten „Flowers Formated“, vermischen die Einflüsse aus good old Europe mit denen der alten wie auch der modernen asiatischen Länder. Landschreibers Anverwandlungen klassisch-traditioneller wie trivial-künstlicher Bildwelten, ihr Rekurs auf die Werbewelten in Film und Fernsehen, offenbaren eine intellektuelle Künstlerin, die gewitzte, freche und selbstironische Statements abgibt, aber zugleich vorurteilslos und von der Neugierde nach der Schönheit und der Wahrheit der Bilder getrieben ist.
Eines meiner Lieblingsobjekte, die aus Holz gebaute menschengroße „Rosette mit Maiglöckchen“, an deren Rändern Maikäfer in einem Endlosrapport entlang zu kriechen scheinen, können sie demnächst in der Galerie Engert sehen. Es lohnt sich. Es stellt die Summe ihre Beschäftigung mit der vergänglichen Schönheit der französischen Hochgotik dar. Dabei greift sie jene filigrane Schönheit der berühmten Fensterrosette an der Südseite von Notre Dame in Paris auf und renaturiert, d.h. führt die versteinerten vegetabilen Muster in scheinbar pflanzliche und tierische Formen zurück.
Vor den hier ausgestellten „Brautbildern“ gerät der Betrachter in ein Wechselspiel von Ironie und Befriedigung eines Bedürfnisses nach Bildern einer heilen Welt. Es schwingt eine Glanzbildchen-Ästhetik mit, gesättigt von einem Prinzessinnen-Mythos à la Lady Di. Diese Objektkästen repräsentieren drei verschiedene Archetypen des Weiblichen von der Jungfrau bis zur Hure. Der Betrachter wird sozusagen aufgefordert, seine Wahl zu machen: make your own choice: Soll’s vielleicht eine Rothaarige sein, die als mariologische Braut im Rosenkranz erscheint. Oder soll es doch lieber das blonde Sportgirl sein - Nicole Uphoff mit ihrem Lieblingspferd „Rembrandt“ stand hier Pate-, oder darf es doch lieber etwas prickelnder sein, eine schwarzhaarige Domina mit einem sich selbst zerstückeltem Kampfhund Nero. Die menschlichen Figuren sind durch weiße Stege mit ihren tierischen Begleitern verbunden. Sie liegen wie Intarsien, die fein säuberlich in Laubsägearbeit aus ihrem Grund herausgelöst wurden, in diesen Setzkästen. Die Perfektion dieser Kunstfiguren, aber auch ihre spielzeugartige schablonenhafte Künstlichkeit mit den weißen Verbindungsstegen mag so manche Betrachterin an ihre Kindheit mit den Ausschneidebögen für Anziehpuppen erinnern.
Welche künstliche Welten tun sich bei diesem Mixtum aus Kleinmädchen-Träumen und Männerphantasien auf, wo Frauen als blutleere körperlose Puppen falsche Versprechungen wecken?
So sehr uns diese Attrappen amüsieren, so sollten wir doch nicht das ernsthafte künstlerische Anliegen übersehen. Es berührt eine der Grundfragen, denen sich Künstlerinnen heute stellen müssen: es ist die Frage nach der eigenen Identität, nach der Wahrheit oder der Scheinwirklichkeit von Bildern, Bilder, die makellose Schönheit und ewige Jugend suggerieren.
Genau genommen hinterfragt Anke Landschreiber die Repräsentationsformen fremder und eigener Bilder, untersucht deren Bild-Status, schält die kulturellen Muster heraus, die über das Bild transportiert werden.
Angesichts der traditionellen Trias von Künstler – Kunstwerk und Betrachter, in der immer auch – bewußt oder unbewußt - die Frage nach der geschlechtlichen Identität eingewoben ist, liegt es nahe, daß eine so wache Künstlerin wie Anke Landschreiber die Dekonstruktion und Neukonstruktion überkommener Weiblichkeitsbilder reizt. Beides geht einher mit der Auflösung des Staffeleibildes und überschreitet die Bildgrenzen ins Objekt oder ins bewegliche Bild wie ihrem Video der „Eisprinzessin“. Denn hier wird die stereotype Setzung, das Schönheitsdiktat spielerisch-ironisch aufgegriffen und die Trennung zwischen Bild und Betrachter, Schein und Sein bewußt beweglich gehalten.
In einem anderen Verfahren thematisiert Anke Landschreiber in ihrer Serie „so lucky“ eine weitere Scheinwelt glücklicher Wesen. Stereotypes Gehabe und Gebärden im Gewand des geklonten, netten, gutmütigen, aber dümmlichen Schafes Dolly werden hier im Rückgriff auf die Werbeästhetik des Fernsehens durchdekliniert: Von der Attitüde des lässigen Mannes „I am the winner“ bis zur mitleidheischenden Rhetorik eines kranken Kindes werden Trugbilder mit appelativem Charakter vorgespielt. Landschreiber setzt auf die Wirksamkeit des „kollektiven Gedächtnisses“ (Aby Warburg) und der Verbindlichkeit von Gebärdensprache, Attitüden und Pathosformeln. Die Künstlerin steht damit in einer langen künstlerischen Tradition, in der die „Beredsamkeit des Leibes“, wie dies im 18. Jahrhundert genannt wurde, d. h. in der die Körpersprache zum Thema der Kunst gemacht wurde.
Ähnlich trügerisch wie die Bilder nimmt sich die Materialität des Werkes selbst aus, das zwar wie ein traditionelles, auf Keilrahmen aufgezogenes Leinwandbild vorgeführt wird, in Wirklichkeit aber eine am Computer bearbeitet Fotocollage ist. Anke Landschreiber hat diese Fotocollagen bewußt vergröbert und deren Bildumrisse und Feinzeichnung vereinfacht. Gemäß der Fabel vom Wolf im Schafspelz hat sich auch in dieser Bildserie ein Wolf z. B. in der glücklichen Familie mit Kind versteckt. Und so sagen wir es mit den Worten des Matthäus „Ich sende Euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; seid daher klug wie die Schlangen und arglos wie Tauben“.

Copyright Bettina Baumgärtel